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Adam German Preview

Der sechste Tag

Ein Käfer krabbelte über sein Gesicht und weckte ihn auf.

„Schon gut, schon gut. Ich bin wach. Jesus.“ Er war sich nicht sicher, wer Jesus war, schließlich war er der einzige lebende Mensch im Universum; es fühlte sich einfach richig an, das zu sagen. Der Käfer krabbelte jeden Morgen etwa zur selben Zeit über sein Gesicht, sodass er nie verschlief. Er wusste auch nicht, was passieren würde, wenn er es täte, denn er hatte keinen Job. Er wälzte sich hinüber, um auf den Wecker auf seinem Nachttisch zu schauen. Doch da war kein Wecker. Oder Nachttisch. Oder Zeit.

Der Käfer war hungrig. Er fand ein großes, grünes Blatt, hob es vom Boden auf, pustete den Staub davon ab und legte es vor seinen krabbeligen Freund. Warum das Insekt sein verdammtes Futter nicht selbst finden konnte, war ihm schleierhaft. Doch er sollte ohnehin nicht die Wege des Universums hinterfragen.

Er ging in die Ecke des Zimmers in seiner Hütte, in dem er schlief, und trat vor ein großes Ding – Kommode genannt – welches aus Schlamm und Blättern konstruiert wurde. Clever wie er war, baute er Dinge namens „Schubladen“ ein, welche er herausziehen und hineinschieben konnte. So konnte er empfindliche Blätter, aus denen er Kleidung herstellte, verstecken und schützen. Und damit den Käfer füttern. Er öffnete die oberste Schublade. Sie war voll mit zahlreichen Exemplaren der gleichen Blattart, doch jedes einzelne davon war etwas anders und hatte seine ganz eigenen Details. Jedes Blatt hatte auch eine Rebe, zusammengebunden zu einer großen Schlaufe.

An richtiger Kleidung bestand überhaupt kein Bedarf, denn Sittsamkeit war ein Ding der Zukunft. Nein, hier ging es es nicht um Sitte und Anstand. Es war einfach zweckorientiert und half dabei, die Schafe davon abzuhalten, an seinem besten Stück zu knabbern. Er hatte mehrere hundert Ausführungen dieser Blätter-Bekleidung angefertigt, vor allem aus Langeweile. Bei den letzten Exemplaren hatte er herausgefunden, wie er den Knoten der Schlaufe so binden konnte, dass er verstellbar blieb – nur für den Fall, dass er Gewicht zulegte oder abnahm. Es gab zahlreiche Tiere, die er erlegen konnte. Hungrig sein musste er daher nie. Doch es war enorm anstrengend, jeden Tag ein Tier zu jagen, zu töten, auszunehmen und zu kochen. Deshalb fastete er an manchen Tagen und verlor etwas Gewicht. Obst und Gemüse gab es zwar reichlich, doch die trugen nicht sonderlich viel dazu bei, das Gewicht zu halten. Außerdem wurde er den Mangel an Abwechslung langsam leid.

Ein Nahrungsmittel, das ihn besonders neugierig machte, war die Frucht, die von einem besonderen Baum inmitten des Gartens herabhing. Er war sehr in Versuchung, eine davon zu essen. Einfach nur, um zu sehen, wie sie wohl schmeckte. Sie sah jedenfalls köstlich aus. Doch Gott verbot es. Er wusste nie genau, warum Gott es verbot. Irgendwas von wegen der Baum würde Wissen innehaben und wenn er dessen Früchte essen würde, wüsste er auf einmal gewisse Dinge. Zuerst klang das alles für ihn nach Science Fiction und jeder Menge Schwachsinn. Was sollte schon passieren, wenn er von den sogenannten „verbotenen Dingen“ wüsste? Wieso sollte dadurch Schaden entstehen? Doch wer würde schon Gottes Wort infrage stellen. Bald jedoch glaubte er, dass vielleicht doch etwas an dieser „Wissens-Sache“ dran sein könnte. Des Öfteren erwischte er eine Ziege dabei, eine von dem Baum heruntergefallene Frucht zu essen. Es kam ihm so vor, als würde die Ziege allmählich schlauer als er selbst werden. Sie hatte sogar gelernt, auf ihren beiden Hinterbeinen zu laufen und sprach inzwischen fließend Arabisch. Das alles schien ihm ein bisschen zu nah an der Evolution zu sein. Er wunderte sich, wieso Gott hier keinen Riegel vorschob. Wenn das so weiterging, würden sich bald womöglich sogar Affen zu Menschen entwickeln. Und das wäre schon ziemlich verrückt. Er starrte den Baum an. Eines Tages würde er eine dieser Früchte essen. Verflucht sollte er sein, wenn er sich einfach so von einer Ziege austricksen ließe.

Er stand am Rande seines Gartens und goss Pflanzen. Und es war ein sehr großer Garten. Wobei – groß im Vergleich zu was eigentlich? Er war sich nicht sicher. Es gab Feigen- und Pfirsichbäume, Wacholder- und Blaubeerbüsche. Er wäre sehr stolz darauf gewesen, wäre Stolz nicht eine Sünde gewesen. Der Garten war wunderschön und es machte großen Aufwand, ihn so zu gestalten. Kämen Besucher vorbei, würden sie von umwerfenden Aussichten und betörenden Gerüchen begrüßt werden. Er hätte genug Ernte, um eine ganze Armee satt zu bekommen. Es war eine Schande, dass alles hier für nichts und wieder nichts war. All das fühlte sich für ihn unnötig und verschwenderisch an. Doch das änderte nichts; es war nicht er, der all das verschwendete. War es eine Sünde, solche Dinge zu denken? Er hoffte nicht. Denn bisher war er frei von Sünde und das sollte auch so bleiben.

Bisher war er nie so weit in den Garten vorgedrungen, dass er seine Hütte aus den Augen verlor. Dadurch fehlte es ihm auch an Vorstellungskraft, wie riesig der Garten wirklich war. Er hatte genug Nahrung um sich herum, weshalb es auch keinen Anlass gab, weiter zu gehen. Doch er war sich sicher, dass es dort noch viel mehr zu sehen gäbe. Noch mehr Köstlichkeiten und Verwunderungen, von denen er bisher nichts wusste. Warum eigentlich nicht? Er war neugierig und gelangweilt. Er hoffte, Neugierde und Langeweile waren keine Sünden. Er konnte nicht darauf warten, dass Gott sich irgendwann mit einer Liste meldete. Oder einer Bedienungsanleitung. Oder irgendetwas anderem.

 

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