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Jetzt reichts

Der alte Mann saß im Wohnzimmer, schnitzte und sah sich Cargo Wars im Fernsehen an. Durch seine Unkonzentriertheit rutschte er ab, verfehlte das Stück Holz, an dem er arbeitete, und schnitt sich mit dem Messer in die Hand. Seine Frau und die beiden Kinder lachten laut und aus voller Seele, während er den Boden und die bereits sehr blutige Couch heftig vollblutete. 

„Haha, gut gemacht, Dad. Schon wieder!“, kicherte der sechsundzwanzigjährige Junge, Hänsel. 

„Du bist dumm!“, sagte seine vierundzwanzigjährige Tochter, Gretel. 

Sein Blick war vielsagend. Nicht beeindruckt. „Kann mir endlich jemand einen verdammten Lappen bringen!?“, schrie der alte Mann. 

Seine Frau eilte aus dem Zimmer und kam mit einer Rolle Küchenpapier zurück. 

„Ich habe gesagt ein Lappen, du Dussel! Irgendwas, um die Blutung zu stoppen!“ 

„Ach, das wird schon, Liebling. Es passiert dir doch jeden Abend.“ 

Und das stimmte. Es passierte jeden Abend. Verlässlich wie ein Uhrwerk.   

„Und trotzdem hörst du nicht mit dem Schnitzen auf“, sagte seine Frau. 

Und auch das stimmte. Er schnitzte weiterhin jeden Abend. Verlässlich wie ein Uhrwerk. 

„Warum gibst du nicht einfach auf?“, fragte Gretel. 

„Weil“, sagte der Vater, „es mein Job ist.“ 

„Dein Job?“, fragte seine Frau. „Du machst das jetzt schon seit Jahren und hast noch nichts verkauft. Stattdessen stapeln sich die ganzen Schnitzereien in unserem Zuhause. Hast du in letzter Zeit mal einen Blick ins Gästezimmer geworfen? Wir können niemanden mehr auf einen Drink einladen und ihm anbieten, bei uns zu übernachten; man kann das Bett nicht einmal mehr sehen. Die Tür geht kaum noch auf. Der Raum ist vollgestopft mit dem ganzen Krempel, den du kreiert hast. Ich weiß noch nicht einmal, was das überhaupt sein soll.“ Sie hielt das Exemplar hoch, an dem er zuletzt gearbeitet hatte. „Ich meine, sieh dir das doch mal an. Was soll das sein?“ 

„Es ist ein Schlachtschiff.“ 

„Ein Schlachtschiff? Es sieht aus wie das komplette Gegenteil eines Schlachtschiffs. Wenn mich jemand bitten würde, dass Gegenteil eines Schlachtschiffs zu schnitzen, würde das Ergebnis wahrscheinlich genau so aussehen. Du hast das jetzt lange genug gemacht, Liebling. Eigentlich hättest du deine Fähigkeiten mit der Zeit verbessern sollen. Stattdessen bist du inzwischen schlechter als am Anfang.“ 

„Das liegt daran, dass ich mich immer schneide!“, antwortete er. „Ich habe in meiner linken Hand kein Gefühl mehr.“ 

„Vielleicht solltest du dir einen richtigen Job suchen, Dad.“, schlug Hänsel vor. 

„Genau.“, stimmte Gretel zu. 

„Vielleicht sollte ich mir einen richtigen Job suchen? Vielleicht sollte ich mir einen richtigen Job suchen?“ 

„Ja.“, sagte Hänsel. „Einen richtigen Job. Wie willst du uns mit diesen hässlichen Holzschnitzereien, die niemand kaufen will, unterstützen?“ 

„Euch unterstützen?”, sagte der alte Mann. „Euch unterstützen? Ihr seid erwachsen! Warum sollte ich auch nur versuchen, euch noch zu unterstützen?“ 

„Weil wir deine Kinder sind, Dad.“, sagte Gretel. 

„Naja, das ist noch nicht abschließend geklärt.“, sagte er, sah zu seiner Frau hinüber und rollte mit den Augen. „Hey, ich habe eine neue Idee!“, sagte er dann. „Warum sucht ihr beiden euch nicht einen Job?” 

Hänsel und Gretel sahen sich einige Sekunden an, dann brauchen sie in schallendes Gelächter aus. „Hahaha!“, sagte Hänsel. „Du bist ja witzig, Dad. Jobs. Haha!“ 

„Ich meine es ernst. Ich habe genug davon, eine vierköpfige Familie allein zu versorgen. Als eure Mutter euch beiden undankbaren Bälger zur Welt brachte, dachte ich, nach achtzehn Jahren wäre die Sache erledigt. Aber ihr seid ja immer noch hier.“ 

„Ja, weil du uns liebst, Dad“, sagte Gretel. 

„Ja, ich liebe euch beiden. Deshalb denke ich, dass es für euch an der Zeit ist, erwachsen zu werden und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden.“ 

„Aber Daaaad!“, jammerte Gretel. 

„Kein ‚Aber Dad‘. Es ist höchste Zeit, dass ihr etwas aus euch macht. Ihr solltet mich und eure Mutter stolz machen. Ihr solltet euch selbst stolz machen. Wollt ihr nicht mehr vom Leben?“ 

Bruder und Schwester schüttelten beide ihre Köpfe. „Nicht wirklich.“, sagten beide unisono. 

„Ihr habt bis Ende des Monats Zeit, mein Haus zu verlassen.“, sagte der alte Mann. 

„Aber was sollen wir denn machen?“, fragte Hänsel. „Genau“, sagte Gretel, „wir haben nichts gelernt. Wir können nichts.“ 

Als sie alle vier über diesen Gedanken nachdachten, breitete sich Stille aus. Es stimmte. Sie konnten nichts. Dann wendete sich ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu, wo LKW-Fahrer auf Jobsuche gezeigt wurden. 

„Das ist es!“, rief der alte Mann freudig. „Das werdet ihr: Fernfahrer!“. 

Die beiden erwachsenen Kinder brachen erneut in schallendes Gelächter aus. 

„Ich meine es ernst“, sagte der Vater.  

Erneut breitete sich Stille aus, als die Kinder darüber nachdachten, wie idiotisch sie die Idee ihres Vaters fanden. 

Bis der LKW-Fahrer mit dem längsten Bart im Fernsehen seine Zusage erhielt, einen LKW voller Zwerge zu einer tausend Meilen entfernten Burg zu fahren. Zweitausendsechshundert Dollar sollte er dafür bekommen – die Kinder begannen zu sabbern. 

  

„Gretel, denkst du, was ich denke?“, fragte Hänsel.  

„Das unser alter Herr vielleicht doch nicht so ein Idiot ist?“, fragte Gretel. 

Hänsel sah zu seinem Vater rüber und schüttelte den Kopf. „Nein, er ist trotzdem ein Idiot. Aber selbst Idioten können ab und zu gute Ideen haben. Was sagst du? Willst du es machen?“ 

„Braucht man dafür keine Ausbildung? Können wir uns das überhaupt leisten?“ 

„Wir können gemeinsam einen Kredit aufnehmen. Ich werde für euch bürgen.“, sagte der Vater. „Ihr kriegt eure Ausbildung schon.“ 

„Wirklich?“, fragte Gretel. 

„Wenn ich euch dadurch aus dem Haus bekomme, tue ich alles.“ 

Und so stand der Plan. Als erstes musste Gretel ihren normalen Führerschein machen. Keines der beiden Kinder besaß ein Auto und nur Hänsel hatte bereits den Führerschein. Jedes Mal, wenn einer von beiden irgendwohin musste, fuhr Hänsel mit der alten Rostlaube seines Vaters. Und wenn Hänsel mal keine Lust hatte zu fahren, aber Gretel irgendwohin musste, fuhr ihr Vater sie. Verwöhnte Bälger. Es stimmte. Aber nicht mehr lange. 

 

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